Das Phänomen der sogenannten Islamophobie
Fast ein Jahrtausend lang sah sich Europa durch den Islam bedroht: vom Einfall der Araber
in Spanien 711 bis zum Ende der zweiten Türkenbelagerung Wiens 1683. Wenn sich Europa
über Jahrhunderte als christliches Abendland definierte, wenn Fürsten in Europa trotz allen
Zanks zueinander fanden, dann wegen der Bedrohung durch „den Islam“ – zunächst im
Westen, dann im Osten. Die Maurenherrschaft auf der iberischen Halbinsel hat das kollektive
Bewusstsein der Europäer ebenso geprägt wie die osmanische Herrschaft auf dem Balkan.
Das erklärt zum Teil, warum eine quantitativ und optisch wachsende Präsenz des Islam mitten
in Europa bei vielen unreflektierte Ängste auslöst. Ängste, wie sie sich in der Schweizer
Abstimmung gegen Minarette niederschlugen, und wie sie in weiten Teilen Europas Wasser
auf die Mühlen von Rechtspopulisten sind. Weil Europa im globalen Vergleich wohlhabend ist,
zugleich aber demographisch vergreist und überdies durch die Verdrängung seines christlichen
Erbes in eine schwere Identitätskrise geraten ist, fürchtet es jene Nachbarn, die im Kontrast
dazu leben, also wirtschaftlich ärmer sind, demographisch jung und sich ihres islamischen
Erbes höchst bewusst.
Doch auch auf der anderen Seite gibt es Ängste, denn der Islam war historisch nicht nur
Täter, sondern auch Opfer: Es ist „der Westen“, der seit zwei Jahrhunderten die islamische
Welt dominiert, nicht umgekehrt. Es waren zunächst Briten und Franzosen, später v.a. die
Amerikaner, die in den Kernländern des Islam den Ton angaben. Für Muslime wirft das die
Theodizee-Frage auf: Wie kann Allah das zulassen? Warum werden die Frommen gedemütigt?
Warum dürfen Ungläubige über Gläubige herrschen?
So haben beide Seiten ihre historischen Traumata. Beide Seiten fühlen sich auch aktuell vom
jeweils anderen bedroht: Das rasch alternde Europa sieht sich herausgefordert durch die
Massenzuwanderung, den Kinderreichtum und die kulturelle Fremdheit von Muslimen. Die
islamische Welt sieht sich provoziert durch die andauernde weltwirtschaftliche, politisch-
militärische, technologische und kulturelle Dominanz des Westens. Diese Ängste stehen an
der Wiege unterschiedlicher Reaktionen: Aggression und Rückzug ins Ghetto, Abgrenzung und
Angst.
Heute täte eine westlich-pluralistische Gesellschaft gut daran, Religion als weltpolitischen
und gesellschaftspolitischen Faktor wieder ernst zu nehmen, und auch den Koran und die
islamische Geschichte intensiv zu studieren. Stattdessen flüchten viele in Simplifizierungen: Hie
unsere durch Aufklärung und Fortschritt bzw. durch die Emanzipation von den Konsequenzen
des Gottesglaubens so friedfertige, tolerante, glückliche, liberale Gesellschaft – dort eine
vermeintlich finstere, unaufgeklärte, von Gewalt und Unterdrückung gekennzeichnete
Religion. Solche Vereinfachungen bewirken nur in einem Punkt was sie behaupten: Sie
verhindern einen echten Dialog mit der islamischen Welt und den mehr als 20 Millionen in der
EU lebenden Muslimen.
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09:30 - 10:00 Uhr

STEPHAN BAIER
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